- Medizinnobelpreis 1975: David Baltimore — Renato Dulbecco — Howard Martin Temin
-
Die drei amerikanischen Wissenschaftler erhielten den Nobelpreis für »ihre Entdeckungen auf dem Gebiet der Wechselwirkungen zwischen Tumorviren und dem genetischen Material der Zelle«.BiografienDavid Baltimore, * New York 7. 3. 1938; ab 1972 Professor für Biologie am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, ab 1973 auch Professor für Mikrobiologie bei der American Cancer Society, ab 1982 Leiter des Whitehead Institute for Biomedical Research, ab 1990 Präsident der Rockefeller-University in New York.Renato Dulbecco, * Catanzaro (Italien) 22. 2. 1914; ab 1954 Professor am California Institute of Technology in Pasadena, ab 1962 am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla (Kalifornien), ab 1972 am Imperial Cancer Research Fund Laboratory in London, ab 1977 an der Medical School der University of California in San Diego.Howard Martin Temin, * Philadelphia (Pennsylvania) 10. 12. 1934, ✝ Madison (Wisconsin) 9. 2. 1994; ab 1964 Professor an der University of Wisconsin in Madison.Würdigung der preisgekrönten LeistungKaum ein Wissenschaftler hat den Nobelpreis mehr verdient als der Tumorforscher Howard Temin. Bei dieser Aussage spielt die wissenschaftliche Beurteilung der Forschungsleistung allerdings die geringere Rolle. Entscheidend ist vielmehr die starke Persönlichkeit, mit der Temin seine Überzeugung durchsetzte.Die Bestätigung einer VermutungBereits in den 1950er-Jahren hatte er beobachtet, dass auch Viren, die als Erbgut Ribonucleinsäure (RNS; auch RNA, das »A« steht für das englische Acid für Säure) enthalten, sich völlig normal in ihren Wirtszellen vermehren. Dazu muss das Erbgut des Virus irgendwie in das aus Desoxyribonukleinsäure (DNS; auch DNA) bestehende Erbgut der Wirtszelle integriert werden. Das aber schien unmöglich, da längst bekannt war, dass die Information des Erbguts immer nur in eine Richtung übersetzt wird: Von der DNS wird als Kopie RNS gebildet, die ihrerseits in Eiweiße übersetzt wird. Umgekehrt funktioniert es nicht, formulierte Francis Crick (Nobelpreis 1962) ein zentrales Dogma der Molekularbiologie. Genau das aber glaubte Temin, sei bei den RNS-Viren der Fall: Nur wenn deren RNS-Erbgut in DNS umgeschrieben wird, können diese sich vermehren. Jahrelang wurde der seriöse Forscher daraufhin auf Kongressen als Außenseiter gebrandmarkt. Trotzdem hielt er eisern an seiner Theorie fest und suchte nach der reversen Transkriptase, die RNS in DNS übersetzt. Ihm gelang das Wunder, er widerlegte das Dogma, entdeckte das Enzym, das den normalen Weg des Erbguts umkehrt, erklärte damit, wie sich RNS-Viren vermehren und erhielt völlig verdient für diese herausragende Leistung den Nobelpreis.Temin war nicht alleinIn diesem Fall muss es fast schon als Wermutstropfen gelten, dass sich Howard Temin die Auszeichnung mit seinen Landsmännern David Baltimore und Renato Dulbecco teilen musste. Damit soll die Leistung dieser beiden Forscher keineswegs herabgesetzt werden. Sie hatten die Auszeichnung sicher ebenso sehr oder noch eher verdient als andere Wissenschaftler vor oder nach ihnen. Nur ragt eben Howard Temin aus der Riege der Laureaten weit heraus, weil er eine aussichtslos erscheinende Theorie mit guten Argumenten viele Jahre lang gegen etliche Nobelpreisträger und die überwältigende Mehrheit seiner Fachkollegen verteidigte und am Ende beweisen konnte. Dass David Baltimore die reverse Transkriptase praktisch gleichzeitig mit Howard Temin entdeckte, tut der fantastischen Leistung von Temin keinen Abbruch, da Baltimore erheblich später auf einen bereits fahrenden Zug aufgesprungen war.Mit der reversen Transkriptase hatten Temin und Baltimore nicht nur das zentrale Dogma der Molekularbiologie gekippt, das immerhin von einer lebenden Legende dieser Wissenschaftlergilde namens Francis Crick aufgestellt worden war. Sie hatten gleichzeitig auch die Krebsforschung einen entscheidenden Schritt weitergebracht. Denn RNS-Viren können unter bestimmten Umständen Tumore auslösen, hatte Francis Peyton Rous (Nobelpreis 1966) bereits 1911 beobachtet.Krebs aus RNS-VirenTemin und Baltimore lieferten mit der reversen Transkriptase eine Erklärung, wie das funktionieren kann: Befindet sich in RNS-Viren ein Stück Erbgut, das aufgrund eines Defekts Krebs auslösen kann, übersetzt die reverse Transkriptase dieses Gen in DNS. Damit aber ist das Krebsgen in die normalen Vorgänge der Zelle eingebunden und kann den Tumor auslösen. Bald erkannte man, dass die verschiedenen krebsauslösenden Gene der RNS-Viren praktisch identisch mit bestimmten Genen in der normalen Zelle sind.Diese Gene haben häufig etwas mit der Kontrolle der Vermehrung und Spezialisierung von Zellen zu tun. In den Viren fehlen aber oft Teile dieser Gene oder winzige Mutationen haben ihre Funktion verändert. Offensichtlich hatten die Viren irgendwann nur Teile solcher Gene aufgenommen oder ein defektes Gen erwischt. Geben sie dieses Stück Erbgut bei der nächsten Virusvermehrung an die Wirtszelle weiter, übt es dort wieder seine normale Funktion aus. Allerdings fehlt ein Teil oder es ist ein anderer Defekt vorhanden. Gerade bei Genen, die Wachstum oder Spezialisierung von Zellen kontrollieren, können sich solche Fehler aber verheerend auswirken. Unter Umständen sorgen sie jetzt nämlich dafür, dass die Kontrolle über Zellteilungen verloren geht und die Zellen sich ungehemmt weiter vermehren. Genau solches Verhalten kennzeichnet Tumorzellen.Wie macht man Viren sichtbar?Wichtige Hinweise auf die gefährlichen Eigenschaften dieser Gene im Erbgut der Oncorna-Viren, wie krebsauslösende RNS-Viren auch genannt werden, hatte Renato Dulbecco gefunden. Der Mikrobiologe hatte eine elegante Technik entwickelt, mit der man die eigentlich nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbaren Viren auch unter einem normalen Lichtmikroskop zählen kann: Man legt zunächst in einer Petrischale eine Zellkultur an. Infiziert man nun diese Zellen mit einer stark verdünnten Lösung von Viren, vermehren sich diese in den Zellen und zerstören sie dabei. Zerstörte Zellen zeigen sich unter dem Mikroskop als Löcher in der ansonsten geschlossenen Zellschicht. Die Zahl der Plaques genannten Löcher ist identisch mit der Zahl der Viren, die ursprünglich auf die Kulturschalen gegeben wurden.Manche RNS-Viren aber hinterlassen keine Plaques und vermehren sich auch nicht in den Wirtszellen. Infizierte Zellen verändern sich, leben aber weiter. Solche transformierten Zellen vermehren sich sogar besonders gut, weil sie Krebszellen ähneln. Gerade ein oder zwei Gene aus dem Mini-Erbgut der RNS-Viren sind für diese Transformation verantwortlich, erkannte Dulbecco. Damit hatte er auf der Ebene der Zellkultur bewiesen, dass bestimmte RNS-Viren Tumoren auslösen.R. Knauer, K. Viering
Universal-Lexikon. 2012.